Vom offenen Wort als Schadensfall

Liebe Leserinnen und Leser,

bestimmt kennen Sie das Phänomen: In einer jeden Branche spiegelt sich das Produkt ein Stück weit im Kommunikationsverhalten der Menschen, die es erarbeiten.

Im Maschinenbau herrscht viel funktionales Denken. Drücke ich hier auf den Knopf, kommt hinten bitteschön das heraus, was ich erwarte. Maschinenbauer erkennen immer wieder voller Überraschung, dass der Kommunikationsprozess nicht wie eine Maschine funktioniert, wenn der Output völlig anders ausfällt als gedacht.

Die IT-Branche neigt zu digitalem Denken: O oder 1. Kein Platz für Schnörkel, Gefühle, Zwischentöne. Die Welt könnte so einfach sein – auch in der Kommunikation. Da werden die E-Mails nur noch mit einem „FYI“ eröffnet und mit einem „LG“ beendet. Friss Vogel oder stirb. So ist das nun mal in einer Umgebung, wo es auf Tempo und Taktzahlen ankommt.

Und als ich vor vier Jahren erstmals mit der Versicherungsbranche in Kontakt kam, wunderte ich mich darüber, wie vorsichtig die Branchenangehörigen kommunizierten, wobei ich in diesem Fall (ich gab Schreibseminare) sogar MitarbeiterInnen von Kommunikationsabteilungen vor mir hatte. Was diesen Menschen in ihrer Arbeit am meisten Angst machte, war ein offenes Wort. Dinge klipp und klar beim Namen nennen. Direkt sein, in Maßen sogar schonungslos ehrlich. Fast schien es so, als sehnten sich die Redakteure nach einer Versicherung gegen offene Worte und ihre Folgen. Wir tasteten uns gemeinsam vor, an Einzelfällen illustriert, bis an die Grenzen des Sicherheitsdenkens in der Kommunikation. Doch das eigentliche Abenteuer bestand darin, dass die SeminarteilnehmerInnen zuhause in den Redaktionen ihrer KundInnen- und MitarbeiterInnenzeitungen der Versicherungen mutiger in Themenwahl und Text wurden. Und sie wurden.

Das in dieser Form neue Seminar fiel in der Branche positiv auf und ich durfte bei einem Kongress vor 90 PressesprecherInnen deutscher Versicherungen darüber berichten. Hier erlebte ich zu meinem großen Entsetzen einen Moderator, dessen persönlicher Stil es war, jedem eine schallende verbale Ohrfeige zu geben, der auf die Bühne trat oder das Worte ergriff. So hatte ich mir Offenheit nie vorgestellt! In dieser Situation erstarrte ich – damals völlig ahnungslos von Rhetorik, ich hatte bis dahin einfach nur gern referiert – augenblicklich zu einer Art sprechenden Eisblock. Ich brachte die Sache irgendwie hinter mich, fühlte mich aber menschlich zutiefst verletzt und erschüttert über den Moderationsstil „Amphitheater“.

Der zunächst schlimme Vorfall hatte für mich zwei positive Folgen: Erstens gab er mir den entscheidenden Impuls, mich intensiv mit Rhetorik zu befassen, zuerst nur für mich selbst, später als Leistung für meine KundInnen. Heute bilden Rhetorik-Coachings, die Stärkung von ReferentInnen, den Hauptschwerpunkt meiner wortstarken Arbeit. Danke an den fiesen Moderator!

Und zweitens gab es einen, einen einzigen Pressesprecher, der sich im „Amphitheater“ mit Retourkutschen souverän wehrte, bis der Angreifer mit roten Ohren sprachlos auf seinem Sitzplatz zurückblieb: Günther Jesumann. Ich habe den Pressesprecher der Provinzial-Versicherung jüngst an der Hamburger Akademie für Publizistik wiederentdeckt und lag richtig mit meiner Hoffnung, dass er in diesem Interview so mutig wie damals heiße Eisen anpacken würde und über die Kommunikation von Versicherungen tacheles redet. Für mich ein absolutes Pressesprecher-Vorbild für die Branche, aber auch darüber hinaus.

Viel Spaß beim Lesen,

Ihre Dr. Annette Hartmann

„Unsichtbare Ware und das Wagnis des Vertrauens: Unternehmenskommunikation in der Versicherungswelt“

wortstark: Herr Jesumann, Sie sind Pressesprecher der Provinzial Versicherung in Kiel und waren 18 Jahre lang im Expertenteam für Kommunikation innerhalb der deutschen Versicherungsakademie DVA. Wie fanden Sie denn zur Kommunikationsarbeit und warum gerade für die Versicherungsbranche? Gab es hierfür ein Schlüsselerlebnis?

Günther Jesumann: Ich bin von zuhause aus dazu erkoren worden, Jurist zu werden, weil der Vater es nicht werden konnte während des Krieges. Ich habe es dann versucht. Nach zwei gescheiterten Versuchen wollte und konnte ich nicht mehr Jurist werden. Stattdessen traf ich einen alten Freund, der bei der IHK arbeitete. Der erzählte mir, dass sie gerade den Juristen in der Pressestelle wegen zu theoretischem Handeln entlassen hatten ….

wortstark: Aha… und dann kamen Sie also gerade deshalb zum Zug, weil Sie nicht Jurist waren? Einstieg bei der IHK?

Günther Jesumann: Ja, ich bewarb mich und wurde angenommen. In der Zeit habe ich angefangen, mich für Pressearbeit von Unternehmen zu interessieren. Und dann habe ich ein Volontariat bei der Tageszeitung „Kieler Nachrichten“ begonnen, habe später dort als Wirtschaftsredakteur gearbeitet und das Handwerkszeug eines Kommunikationsmenschen erlernt. Dabei kam eine gewisse Unzufriedenheit hinzu, dass ich teilweise bei der Zeitung nicht der Urheber von Artikeln war, sondern nur Material verarbeitete. Ich wollte aber gern Urheber sein. In der Liste der vier großen Unternehmen mit der schlechtesten Pressearbeit im Verbreitungsraum der Zeitung stand vor 22 Jahren eben auch das Unternehmen, in dem ich jetzt tätig bin. Immer habe ich mir gedacht: Denen muss man mal Nachhilfeunterricht geben! (lacht)

wortstark: (lacht) Wie haben Sie diese Nachhilfe so angeboten, dass sie akzeptiert wurde?

Günther Jesumann: Die Provinzial hatte mich mal außerhalb von Pressekonferenzen zu einem Gespräch eingeladen. Und da hab ich gesagt: „Ich verstehe nicht, warum Sie sich Marketinginformationen als Presseinformationen nehmen und sich immer nur im glänzenden Licht darstellen, warum Sie nicht auch ein bißchen ehrlich über sich selber berichten?“ Da hat mein Gesprächspartner etwas gezögert. In diesem Augenblick kam der damalige Vorstandsvorsitzende ins Zimmer. Es war Vertrauen auf dem ersten Blick: Da habe ich gemerkt, mit dem kann ich all das umsetzen, was ich mir vorstellte. Das war das Schlüsselerlebnis.

wortstark: Und das mit der Versicherungsbranche hat sich einfach so ergeben?

Günther Jesumann: Das lag daran, dass ich ein paar andere Branchen ausgeschlossen hatte: Politik zum Beispiel, Kernkraftwerke… Für die wollte ich nie Pressearbeit machen, da fehlte mir die Überzeugung. Versicherungen fand ich am spannendsten, weil sie eine unsichtbare Ware verkaufen, ein Produkt, was man hauptsächlich mit Worten, mit Sprache beschreiben muss. Ich weiß heute, dass es nicht nur die Sprache ist. Aber das gab damals zum Wechsel den Ausschlag.

wortstark: Was ist es denn noch, neben der Sprache?

Günther Jesumann: Das eigene Handeln. Dazu komm ich noch.

wortstark: Gut. – Als ich vor vier Jahren zum ersten Mal ein Schreibtraining gab für RedakteurInnen von MitarbeiterInnen– und KundInnenzeitschriften in Versicherungen, empfand ich die Branche auch in Kommunikationsdingen sicherheitsorientiert. Da „gehörte“ das Editorial dem Vorstand. Und auf meine Frage, wie die RedakteurInnen ihre Themen generierten, kam die Antwort: „Post-it-Haftnotizen vom Vorstand“! Wie sicherheitsorientiert ist denn in Ihren Augen die Unternehmenskommunikation von Versicherungen?

Günther Jesumann: Sicherheitsorientiert ist sie schon. Aber wir leben auch mitten in einem Wechsel: Die entscheidenden Personen in einer Versicherung sind die Vorstände. Und es gab lange Zeit keine Vorstandsteams, sondern Alleinherrscher, Generaldirektoren. Der Manager, der an der ersten Stelle stand, war auch der Sprecher, der nach außen auftrat und gleichzeitig der erste Redakteur. Sogar beim größten deutschen Unternehmen, der Allianz, wurde alles, was nach Innen oder Außen geschrieben wurde, nochmal vom Generaldirektor gegen gelesen. Und da sind natürlich Themen nur von oben nach unten transportiert worden. Es gab zwar auch schon damals Ausreißer innerhalb der Branche, gerade die kleinen und eher regional ausgerichteten Unternehmen, aber die große Masse hat es so gemacht.
Heute hat sich das komplett geändert: Standard ist eine eigene Pressestelle, auch unabhängig vom Marketing. Das war früher oft eins und damit sehr produktbezogen. Und die haben nie aus der Perspektive des Verbrauchers, Nutzers, Kunden geschrieben, sondern eher „verwaltungsmäßig beschreibend“. Das waren eher Erklärungen, fast Verhaltensbefehle für die betroffenen Menschen, also: „Verhalte Dich bitte so und dann kriegst Du das auch“. Und, ja, das kam durchaus aus einem Sicherheitsbedürfnis. Das ist heute aber nicht mehr so.

wortstark: Erklärungshilfe für Menschen – hm, mir ist der Adressat noch nicht ganz klar…?

Günther Jesumann: Der Adressat war außen der Kunde und innen die Mitarbeiter. In beiden Fällen hat man aber immer aus Sicht der Unternehmensleitung kommuniziert. Für die Mitarbeiter wie auch für die Kunden gab es nur Verhaltensrichtlinien: „Wie verhalte ich mich, wenn ein Schadensfall eintritt“ und so weiter. Aber das war nicht aus der Kundenperspektive geschrieben.

wortstark: Naja, und was kommt dann heute an der Stelle „wenn der Schaden eintritt“?

Günther Jesumann: Früher hätte man gesagt „nach Schadensfall umgehend melden, sonst gibt’s kein Geld“. Heute würde man sagen: „Passen Sie auf, dass Sie bei der Schadensverhütung erstmal Ihr eigenes Leben schützen!“ (lacht) Und man hat auch noch eine andere Sichtweise gehabt: Man hat immer vermutet, dass die Kunden das Unternehmen eigentlich beduppen, also durch Falschangaben in den Genuss des Geldes kommen wollen.

wortstark: Oh – auf gut Deutsch Versicherungsbetrug?

Günther Jesumann: Ja. Entscheidend war, die Kommunikation geschah immer aus Sicht des Versicherungsunternehmens. Inzwischen hat man erkannt, dass das Ganze ein Vertrauensproblem ist. Die Branche gewinnt das Vertrauen nicht dadurch zurück, dass sie glaubwürdig kommuniziert, das muss sie in jedem Fall, aber sie muss auch glaubwürdig handeln. Deshalb bin ich ja heute der Auffassung, dass die Sprache, der Text gar nicht allein ausschlaggebend ist, sondern das Verhalten der Mitarbeiter, die Kultur eines Unternehmens. Daran merkt man auch den Unterschied der einzelnen Versicherungen.

wortstark: Ja, sehr gut, das ist sowieso meine nächste Frage: Wo sind die Versicherungen gleich und wo sind sie unterschiedlich?

Günther Jesumann: Alle Versicherungen haben grundsätzlich das gleiche Produkt. Es gibt Detailunterschiede bei den Tarifbestimmungen, aber im Prinzip bieten alle das Gleiche. Der Unterschied besteht im Verhalten und der Kommunikation, vor allem mit dem Kunden: Da gibt es Direktversicherer, die überhaupt nur schriftlich kommunizieren und via Internet, wo man den Kunden gar nicht kennt oder solche Versicherungen wie wir, die wir unsere Kunden ziemlich genau kennen, weil wir mit Land und Leuten verbandelt sind. Inzwischen hat sich insgesamt vom Misstrauen bis zum Vertrauen viel gewandelt.

wortstark: Aber wie kam plötzlich dieser Wandel? Warum dachte man plötzlich, jetzt kann man dem Kunden vertrauen? Waren die Kunden sauer, hat sich keiner mehr versichert?

Günther Jesumann: Nein, den Unternehmen ging es zu gut und manche brauchten keine Kunden mehr, so glaubten sie. Nach dem Kapitalanlagenstress 2002/ 2003 stellte sich heraus, dass nicht alles von selber läuft. Innerbetrieblich merkte man, es gab eine lange Zeit Vorstände, die haben das Unternehmen erhalten, aber nicht geführt. Und dazu signalisierte der Wettbewerb Mitte der 90er Jahre: Du hast keinen unendlichen Markt. Das Geschäft wird heute in Europa durch Verdrängung gemacht. Es kommen keine neuen Kunden mehr dazu, im Gegenteil: Die Gesellschaft wächst nicht mehr, sie nimmt ab.

wortstark: … Lustig, da habe ich bisher noch gar nicht drüber nachgedacht, dass der Bevölkerungsrückgang so sehr auf diese Branche durchschlägt.

Günther Jesumann: Ist ja so auch noch nicht bei allen erkennbar. Wir leben sozusagen in einer Zeit dazwischen. Meine Beobachtung ist, dass wir jetzt erkannt haben, dass wir in einem begrenzten Raum leben und deshalb mehr investieren müssen in den Kunden, den wir schon haben als uns vor zu nehmen, neue zu gewinnen. Und Bestandskundenpflege bedeutet eben auch, eine besondere Kommunikationsschiene zu ihnen zu errichten. Ein Vertrag über eine 20 Jahre laufende Lebensversicherung zeugt nicht alleine von einer tollen Kommunikation, die man zum Kunden hat. Normalerweise hören diese Kunden nie etwas von ihrer Versicherung. Und die von den Verbraucherverbänden geforderte fortlaufende Information über die Vertragsentwicklung setzt sich erst langsam durch. Da erkennen die Versicherungen, dass sie Geheimniskrämerei gegenüber dem Kunden betreiben, obwohl das falsch ist. Die Unternehmen wollten sich nicht in die Karten gucken lassen. Heute gehört das zum guten Standard, dass jeder Kunde solche Informationen bekommt.

wortstark: Hm. Bei meiner Lebensversicherung hatte ich meist nur jährliche Beitragsrechnungen, aber lief der Information über die angesparte Summe schon mehrmals hinterher. Oder die dynamische Erhöhung wurde einfach realisiert, per Lastschrift eingezogen und ich konnte erst nachträglich widersprechen, wenn mein Geld schon weg war. Da gab es in meinen Augen so manche Unkorrektheiten in der Kommunikation. Aber Hauptsache, ich bekomme jedes Jahr eine Geburtstagskarte vom Makler! Diese Karte nervt mich eher, als das sie mich freut, weil die restliche Kommunikation zu mir hin nicht passt.

Günther Jesumann: Ja. Da gibt es noch viel zu tun und erst in jüngere Zeit wurde erkannt, dass Marketing, Vertrieb und Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Aufgaben gemeinsam lösen müssen. Es macht keinen Sinn, gegeneinander zu arbeiten. Heute werden Texte gemeinsam gemacht. Dieses Zusammenwirken wird immer mehr. Und ich glaube, es wird zukünftig Aufgabe eines Vorstandsvorsitzenden sein, ob Mann oder Frau, dass er auf jeden Fall auch den Vertrieb führt, den Außendienst. Damit er nicht länger Politik des Unternehmens macht, ohne Kontakt zu den Kunden zu haben. Schon allein wegen dieser Vertrauensproblematik: Glaubwürdiges Handeln gleicht jede schlechte Kommunikation aus.

wortstark: Wie äußert sich das im Alltag, dieses glaubwürdige Handeln?

Günther Jesumann: Das beginnt zum Beispiel damit, vor dem Absenden einer Presseinformation die eigenen Mitarbeiter über den Inhalt zu informieren. Wir machen das aus der Überzeugung heraus: Wenn ein Mitarbeiter zuhause beim Abendessen gefragt wird, berichtet er die Neuigkeit, die morgen in der Zeitung steht.

wortstark: Und Sie schicken das echt über den großen Verteiler sozusagen, jede einzelne Pressemeldung an die komplette Belegschaft?

Günther Jesumann: Jede einzelne. Ob das die Weihnachtsadventskranzmeldung ist oder die unternehmenspolitische Fusionsmeldung. Alles wird einen Tag vorher intern verschickt.

wortstark: Ich kenne Firmen, die das ins Intranet stellen, wo es kaum einer sieht. Aber so über den großen Verteiler schicken, an die ganzen E-Mail-Adressen… Bei Siemens weiß ich, die machten das immer zu Weihnachten. Aber das ist dann sozusagen der Brief des Vorstands an die Mitarbeiter, da geht´s ja nicht um Pressemeldungen.

Günther Jesumann: Die Pressemeldung steht bei uns nach dem Herumschicken auch in einer Datenbank. Wir schreiben aber jeden an und sagen, du kannst den Inhalt lesen. Keiner muss, aber er kann. Technisch ist heute alles möglich. Früher haben wir alles noch ausgedruckt und papiermäßig geschickt.

wortstark: Ah, das hört sich gut an, das gefällt mir…

Günther Jesumann: Das haben wir gleich am Anfang eingeführt, eine der ersten Dinge 1984, als ich dazukam. Und das wurde vom Vorstand gutgeheißen, weil er sich einer Pflicht entbunden sah. Die öffentlichen Versicherungen machen das inzwischen fast alle. Und bei den privaten gibt es auch gute Lösungen, sei es, dass sie de Information ins Intranet stellen und beim Aufklicken des Bildschirms erscheint der Hinweis „eine neue Nachricht“ und dann können die Leute selber entscheiden, ob sie das lesen oder nicht. –

Ein guter Nebeneffekt ist der Qualitäts-Check: Wenn wir irgendwas falsch geschrieben haben, sagen uns dies die kritisch lesenden Mitarbeiter. Dann können wir´s für den nächsten Tag bei der eigentlichen Presseinformation noch korrigieren. Am Anfang hat uns das ein bisschen Überwindung gekostet, weil man sich ja nicht gern korrigieren lässt. Aber heute ist das Standard. Ich freu mich auch, dass einer anruft und sagt: „Hey, das kann ich nicht verstehen“. Dann haben wir es schlecht beschrieben, meinetwegen die Einzelheiten bei einer Lebensversicherungspressemeldung… Das ist auch nicht so leicht, undurchschaubar nahezu.

wortstark: … Das ist ja auch ein besonders komplexes Produkt, oder?

Günther Jesumann: Ja genau. Und wenn dann die Leute nicht anrufen, weil sie es offensichtlich verstanden haben, dann kann man es auch den Journalisten schicken. – Ich glaube, dass die innerbetriebliche Kommunikation hier eine zentrale Rolle hat: Ein guter Mitarbeiter muss auch ein gut informierter Mitarbeiter sein, auch manchmal über Dinge, von denen man früher sagte, das brauchen sie nicht zu wissen. Innerbetriebliche Kommunikation muss die Mitarbeiter mit ihrer Arbeit versöhnen, sie müssen verstehen, was ihr Beitrag zum Ganzen ist, damit sie Spaß und Motivation für ihre Arbeit haben.

wortstark: Wenn ich das jetzt mal so zusammenfasse, würde das bedeuten: Das Sicherheitsdenken in der Versicherungsbranche hat abgenommen und jetzt kommt mehr eine Vertrauenskultur auf, mit breiter offener Kommunikation nach innen und außen?

Günther Jesumann: Ja. Und das hat sich in den letzten paar Jahren sehr beschleunigt.

wortstark: Auf den Zeithorizont wollte ich auch nochmal zu sprechen kommen: Als wir im Jahr 2002 zusammen auf der Fachtagung Unternehmenskommunikation waren, hieß das beherrschende Thema der Versicherungen „Fusionen, Kooperationen, Strukturänderungen“. Wie hat die Branche diese starken Veränderungen überstanden, aus Kommunikationssicht?

Günther Jesumann: Gar nicht. Wir sind noch mitten drin. Als die meisten Pressesprecher damals zur Tagung kamen, waren sie von dem Thema Fusionen noch völlig unberührt. Aber während dieser Tagung hat ja einer eine Fusion miterlebt. Wenn ich mich erinnere, wie schnell das gegangen ist, dass Leute gesagt haben: Das betrifft uns überhaupt nicht – oder doch? Und dann in ihren Firmen angerufen und nachgefragt haben. Das große Thema ist Veränderungskommunikation. Das muss ja gar nicht direkt zum Verkauf oder zur Auflösung führen. Veränderungskommunikation gab´s im Katalog der Kommunikation immer schon, aber die Vorstände haben das früher nicht zugelassen. Da findet nach meiner Empfindung ein Generationswechsel statt, weg vom alten Generaldirektor. Wir haben zum Beispiel jetzt bei der Provinzial einen 38-jährigen Vorstandsvorsitzenden, Ulrich Rüther. Der ist Klasse. Der ist einfach klar, authentisch und hat das nicht, was früher Vorstände hatten, nämlich große persönliche Eitelkeiten.

wortstark: Gut, wenn wir in diesem Interview Positivbeispiele benennen können. – Die Versicherungsbranche hat´s ja erst relativ spät erwischt mit der Fusionswelle, andere Branchen kämpfen damit schon länger. Lernen sie daraus?

Günther Jesumann: Leider nicht. Es gibt zwar Bücher darüber, Seminare, wie man es nicht machen soll, aber dann passieren den Unternehmen genau dieselben Fehler, die früher schon gemacht wurden. Zum Beispiel werden die Mitarbeiter erst eingebunden, wenn die ganze Sache fast abgeschlossen ist. Ich sehe das mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

wortstark: Das Weinen brauchen Sie nicht zu begründen, aber wo gibt es etwas zu lachen?

Günther Jesumann: Die Vorstände erkennen anhand des eingetretenen Vertrauensschadens, dass sie uns Kommunikationsleute mit unserem Erfahrungswissen künftig ernster nehmen sollten. Ich leide, Gott sei Dank, nicht darunter. Darin besteht jedoch der Lerneffekt.

wortstark: Hm. Teure Form von Weiterbildung für das Unternehmen, finde ich.

Günther Jesumann: Nicht alles wird so mühsam gelernt.

wortstark: Aha? Was änderte sich denn sonst noch in der Ihrer Branchenkommunikation?

Günther Jesumann: Der Alltag in der Kommunikation zum Kunden hält immer mehr Einzug und das ist auch gut so. Bei den Bildern, die in der Werbung von Versicherungen verwendet werden, gab es früher ausschließlich schöne, junge, gut gekleidete Menschen mit gutem Einkommen – eine Traumwelt. Inzwischen arbeiten die ersten Versicherungen mit mehr Alltagsnähe. Die Mecklenburgische hat zum Beispiel ein grinsendes Baby, was immer da ist. Mehr Alltagsnähe zeigt sich auch in der Themensuche in der Pressearbeit. Die läuft heute von global zu lokal – oder regional – und manchmal auch von lokal wieder zurück, auf regionale Ebene.

wortstark: Beispiel?

Günther Jesumann: Beispiel Klimawandel. Angesichts der Tsunami-Welle in Asien haben wir unsere Außendienst-Experten dazu befragt, was in einem solchen Fall an der Nord- oder Ostsee passieren würde und darüber berichtet. Oder umgekehrt, wenn wir ein ganz lokales Thema haben, sagen wir in Greifswald, dann fragen wir uns, ob das vielleicht auch für die ganze Region oder überregional interessant wäre, zum Beispiel für ganz Norddeutschland. Da hilft es mir sehr, dass ich mal Zeitungsredakteur war. Man muss die Themen halt runterbrechen auf den Alltag der Menschen, die man anspricht. Nach diesem Prinzip arbeiten ja auch Lokaljournalisten.

wortstark: Auf Journalisten wolle ich von mir aus auch eingehen: Sie sind ja ständiger Dozent für Öffentlichkeitsarbeit und Vorstandsmitglied der Akademie für Publizistik in Hamburg, wo journalistischer Nachwuchs ausgebildet wird. Was passiert im Moment an der Schnittstelle von Medienwelt und Öffentlichkeitsarbeit?

Günther Jesumann: Die Medien wie auch die Pressestellen haben im Moment das gleiche Problem: Ihre Arbeit wird auf den Kurs der Kostenseite getrimmt, mit immer weniger Leuten müssen immer mehr Informationen verarbeitet werden. Das geht zu Lasten der Qualität. Noch stärker als früher sind Journalisten reine Verarbeiter, die nicht mehr selbst rausgehen und recherchieren. Da hat man es in einer Pressestelle noch besser, meines Erachtens kann man hier mehr bewegen. Aber sowohl in den Unternehmen wie auch in den Redaktionen wird festangestelltes Personal abgebaut. Wo es früher 1/3 Freie gab und 2/3 angestellte Journalisten, ist das Verhältnis heute gerade umgekehrt. Die vielen Freien müssen nun sehen, wie sie zurechtkommen und sehr häufig arbeiten sie deshalb sowohl für Medien als auch als „outgesourcte“ Pressestellenmitarbeiter.

wortstark: Soviel zum Thema journalistische Unabhängigkeit. Aber was tun?

Günther Jesumann: Ich setze hier schon auf die Journalistenausbildung, auf Offenbarung statt auf Verheimlichung. Außerdem gibt es ja einen Ethikrat bei der Akademie – nicht Presserat-, der sich um konkrete Fälle kümmert. Ich weiß, dass diese Institution rege in Anspruch genommen wird.

wortstark: Aber reicht denn hier „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt“? Für mich zeigt sich außerdem eine Störung im System, die nicht Einzelfällen überlassen werden kann, oder?

Günther Jesumann: Das muss sich ja nicht gegenseitig ausschließen. Die stärkste Macht in dem System hat der Verbraucher und der Medienkonsument. Der kann bei schlechter Kommunikationsqualität zurückschießen, indem er den Fernseher ausschaltet, das Zeitungsabo beendet, Verträge kündigt. Die Leute können sich heute ihre Informationen genauso gut aus dem Internet holen, wie jetzt auch hier zum Beispiel über diesen Newsletter. Oder bei uns, sie wechseln ihre Versicherung. Und wenn die Quote sinkt, wenn die Kundenzahlen sinken, spätestens dann wachen die Anbieter auf und reagieren. Mir ist vor allem wichtig, dass wir alle realisieren, wann wir in eine käufliche Welt und eine gemachte Welt hineingeraten. Wenn Prominente viel Kohle dafür bekommen, dass sie TV- Sendern überhaupt ein Interview geben, dann stimmt etwas nicht mehr. Wenn die Bild-Zeitung Presseausweise an ganz normale Leute ausgibt, damit sie an Unglücksorte oder in der Nähe von VIPs herankommen, dann stimmt etwas nicht mehr. Wenn eine Zeitung nur noch Informationen von Lidl und Aldi enthält, dann kann ich mir diese Informationen auch gleich im Laden holen und brauche keine Zeitung mehr. Wenn der Leser nicht mehr merkt, dass scheinbare Nachrichten eigentlich nur gespielt sind, dass eine Glitzer-Event-Medienwelt Ereignisse inszeniert, dann stimmt etwas nicht mehr. Deshalb bin ich dafür, obwohls mir mehr Mühe macht, dass es immer noch gut ausgebildeten Journalisten sind, die das Tor zu den Medien auf- und zuschließen.

wortstark: Starkes Bild. Bin ich froh, dass wir beide ausgebildete Journalisten sind! Herr Jesumann – ganz herzlichen Dank für dieses offene Gespräch.

Günther JesumannSie erreichen Günther Jesumann unter guenther.jesumann@provinzial.de oder

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