Vom Raum zwischen den Stühlen

Liebe Leserinnen und Leser,

bestimmt kennen Sie diesen Spruch „Man sieht sich immer zweimal im Leben“?

Für mich hat er, so allgemein dahingesagt, einen unnötig warnenden Beigeschmack, nach dem Motto: „Vorsichtshalber immer nett sein, denn dieser Mensch könnte Dir in der Zukunft wieder über den Weg laufen (und dann mächtiger sein und zur Gefahr werden)“. In dem Zusammenhang mag ich den Spruch überhaupt nicht gern und zitiere ihn höchst selten.

Es gibt schließlich auch Begegnungen mit Menschen nach vielen Jahren, da freue ich mich, wenn das Sprüchlein zutrifft und sich die Wege tatsächlich wieder kreuzen. Ein solcher Fall liegt beim nachfolgenden Interviewpartner vor: Dr. Walter Conradi von der Unternehmenskommunikation bei Siemens stand vor knapp 15 Jahren am Anfang meiner Karriere. Er eröffnete mir bei diesem Technikkonzern dankenswerterweise die Möglichkeit zu promovieren und betreute viereinhalb Jahre lang meine interdisziplinäre Arbeit. Neulich liefen wir uns über den Weg. Inzwischen hat er das Ende seiner eigenen Siemens-Zeit vor Augen (an das Ende seiner Karriere glaube ich keineswegs). Die Zeit dazwischen gäbe schon Stoff genug für ein Interview.

Doch die nächste Besonderheit ist: Wir haben beide eine Schwäche für den „Raum zwischen den Stühlen“. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht. Dr. Conradi lotete in seiner eigenen Karriere ebenfalls gerne den Raum zwischen scheinbaren Gegensätzen aus und privat engagiert er sich für junge Leute, die in unserer Gesellschaft zwischen alle Stühle zu rutschen drohen. Näheres siehe den extra eingerichteten Anhang über bürgerschaftliches Engagement.

Für diesen Newsletter im Fokus stehen die beiden Disziplinen Weiterbildung und Unternehmenskommunikation als die eigentlich gemeinten „zwei Stühle“. Ich verfasste einst meine wissenschaftliche Arbeit hierzu und richtete mir nach einigen Jahren des Übergangs, in denen ich mal die Weiterbildung, mal die Kommunikation vorzog, voll überzeugt mein Dienstleistungsportfolio entsprechend „synergetisch“ ein.
Und mein Interviewpartner realisierte die fachliche Kombination bei Siemens durch Schaffung fester Funktionen, die beide Aufgabengebiete eng und doch elastisch miteinander verbinden. Auch wenn sie bisher auf keiner Visitenkarte steht, so ist die Funktion des „Content Owners“ für die Weiterbildung eine interessante Form dieser Verbindung. Lesen Sie im nachfolgenden Interview am Beispiel Siemens, wie es konkret aussehen kann, Unternehmenskommunikation und Weiterbildung unter einen Hut zu bringen:

  • Was hat das Unternehmen davon?
  • Welche Methoden bewährten sich?
  • Wie läuft die Erfolgskontrolle?
  • Was tut der „Content Owner“?
  • Was gefällt den betreffenden MitarbeiterInnen daran?
  • Wo geht die aktuelle Entwicklung hin?

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und möchte Sie dazu ermutigen, im neuen Jahr 2009 den Raum zwischen den Stühlen nicht zu fürchten sondern zu füllen. Dort ist nämlich einer der interessantesten und innovativsten Plätze.

Ihre Dr. Annette Hartmann

Arbeiten in der Schnittmenge: „Content Owner“ für die Weiterbildung

wortstark: Herr Dr. Conradi, Sie sind von der Ausbildung her Betriebswirt mit einem Schwerpunkt Organisationspsychologie. Seit ich Sie kenne, arbeiten Sie bei Siemens in der Schnittmenge zwischen Personalthemen und Unternehmenskommunikation. Als Sie Anfang der 90er Jahre freundlicherweise die Betreuung meiner Dissertation übernahmen, gehörten Sie ein paar Jahre zur Personalabteilung. Nun sind Sie seit über 15 Jahren in der Abteilung Unternehmenskommunikation („Corporate Communications“) tätig, haben dort federführend das „Issue Management“ aufgebaut, und stehen heute in der ungeschriebenen Funktion des „Content Owner“ weiterhin in enger Kooperation mit der Weiterbildung. Wie kam es zu diesem Weg in die fachliche Schnittmenge?

Dr. Walter Conradi: Ich habe mich schon immer stark mit Weiterbildung beschäftigt. Das ist wirklich meine Lebensperspektive geworden, wie sich im Nachhinein herausstellte. Ich hatte zum einen als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem Modellversuch an der Universität Augsburg gearbeitet. Dabei ging es darum, wissenschaftliche Weiterbildung zu machen für Führungskräfte, also Leute, die im Arbeitsleben stehen, nochmal zurückzuholen an die Uni und neue Inhalte mit ihnen zu diskutieren. Und danach war ich einige Jahre Assistent an dem Lehrstuhl für Organisationspsychologie von Oswald Neuberger und betreute dort das Thema Personalentwicklung.

wortstark: Okay, jetzt ist mir klar, warum Sie bei Siemens über die „Personalschiene“ eingestiegen sind. Und wie kam der Übergang in die Unternehmenskommunikation?

Dr. Walter Conradi: Ich war zunächst im Managementtraining tätig und kam dann zum sog. „Gesellschaftspolitischen Training“, mit dem Führungskräfte auf einen Auftritt in der Öffentlichkeit vorbereitet wurden, inklusive Medientraining. Das war dann der Wechsel vom Personalbereich zur Unternehmenskommunikation. Später kamen Aufgaben in der internen Kommunikation dazu. Danach Kommunikationsforschung, d.h. die Überprüfung der Resonanz unserer Kommunikation bei Kunden, in den Medien, bei den Mitarbeitern, und schließlich „Issue Management“. Und von dort bin ich wieder zurückgekommen zu dem großen Paket „Training Unternehmenskommunikation“. Das ist dann auch der Endpunkt meiner Karriere bei Siemens, wenn ich im Februar nächsten Jahres in den passiven Teil meiner Altersteilzeit eintrete.

wortstark: Sie sind so ein aktiver Mensch. Ich glaube einfach nicht, dass Sie wirklich passiv werden und in den Ruhestand gehen. Was kommt danach?

Dr. Walter Conradi: Ich engagiere mich schon seit einigen Jahren in einer Bürgerstiftung. Nachdem ich in Augsburg eine sehr gute Kindheit und Jugend erleben konnte, habe ich gedacht, ich versuche mal etwas zu unternehmen, was Kindern und Jugendlichen in Augsburg, vor allem aus Migrantenfamilien, nützlich sein kann.

wortstark: Das finde ich gut. Richtig gut. Erstmals in der 6-jährigen Geschichte dieses Newsletters habe ich einen Anhang eingerichtet, damit Interessierte näher in diese Idee der Bürgerstiftung hineinlesen können, die ich fördern möchte.
Als wir das Interview vereinbarten, wusste ich allerdings von Ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit noch nichts. Was mich in den letzten Jahren an Ihnen faszinierte, war die Tatsache, dass Sie es geschafft hatten, in diesem großen Konzern zum „Synergiemenschen“ zu werden, also diese Brücke zwischen zwei Fachbereichen in Personalunion zu leben. Das, was ich 1996 mit meinem Synergiemodell beschrieben hatte, nämlich wie die Weiterbildung und die Unternehmenskommunikation großer Unternehmen zusammenarbeiten könnten, das haben Sie in vielen Facetten individuell umgesetzt.

Dr. Walter Conradi: Es gehört eben auch zusammen: Beim „Issue Management“ geht es um die Frage: Wie kann ich die für das Unternehmen relevanten Themen herausfinden, beschreiben und so kommunizieren, dass sie eine nachhaltige Wirkung haben? Sobald diese Themen und die Wege der Vermittlung gefunden sind, muss – jedenfalls bei Siemens- beides an rund 1.500 institutionalisierte KommunikatorInnen weltweit weitervermittelt werden, und das ist wiederum eine Mischung aus Kommunikation und Lernen. Die Themen sollen möglichst einheitlich das Unternehmen darstellen. Um das zu erreichen, muss man mit diesen Themen sehr konsequent in die Weiterbildung einsteigen. Die Weiterbildung ist ein Vehikel, um die internen professionellen KommunikatorInnen aufzuklären, zu motivieren, hinzuweisen darauf, wie sie ihre Zielgruppen von diesen Themen überzeugen können.

wortstark: Könnten Sie dazu ein Beispiel geben?

Dr. Walter Conradi: Wir hatten ein neues Management System entwickelt, nach dem Siemens öffentlich antritt mit drei großen Themen: Innovation, Kundenfokus und globale Wettbewerbsfähigkeit. Die KommunikatorInnen sollten das weiter tragen: Zuerst nach innen, denn wir wollten alle MitarbeiterInnen samt Führungskräfte für diese Themen gewinnen, also interne Kommunikation. Zweitens an den Markt, denn die Kunden sollten darüber Bescheid wissen. Und schließlich an die Presse. Das ist uns im Laufe eines Jahres gut gelungen.

wortstark: Wie haben Sie das erfasst? Erfolgskontrolle ist ja immer das Schwierige an der Sache. Hatten Sie einen Clipping-Service?

Dr. Walter Conradi: Wir haben erstmal geprüft, ob die Themen Eingang finden in das Intranet der verschiedenen Geschäftsbereiche und Länder, auch in den Mitarbeiterzeitschriften haben wir nachgesehen. Dann verfolgten wir unsere Themen in den Pressemitteilungen und so weiter.

wortstark: Wie haben Sie das Prüfen und Nachschauen umgesetzt?

Dr. Walter Conradi: Wir sind beim internen Bereich auch intern vorgegangen und für alles andere haben wir eine große internationale Clipping-Agentur beauftragt, die weltweit in den wichtigsten Medien nach unseren Themen gesucht hat. Siehe da – es ist uns wirklich gelungen, diese Themen zu etablieren.

wortstark: Alle drei gleich gut?

Dr. Walter Conradi: Nein, am besten lief es mit der Innovation, weil das die externen Medien am meisten interessiert. Aber auch Kundenfokus und Wettbewerbsfähigkeit haben wir untergebracht.

wortstark: Wie konnten Sie einschätzen, dass die vorgefundene Anzahl gut war? 50 Artikel weltweit innerhalb eines Jahres könnten doch zum Beispiel schlecht oder gut sein?

Dr. Walter Conradi: Wir hatten die Agentur schon auch beauftragt, uns den Tenor mitzuteilen, also positive, neutrale und negative Berichterstattung. Und dazu kam der Vergleich mit den wichtigsten Konkurrenten zum gleichen Thema. Und das Ganze noch bezogen auf einzelne Länder.

wortstark: Ui, dann war das ja ein Riesenumfang? Was für Konkurrenten und was für Länder hatten Sie besonders im Auge?

Dr. Walter Conradi: Bei den Firmen besonders GE, IBM und Toshiba, bei den Ländern besonders USA, China, Deutschland und Großbritannien in der ersten Welle. Dazu bekamen wir halbjährlich die Auswertungen. Später kamen noch andere dazu.

wortstark: Das freut mich jetzt richtig, dass es hier auch mal zu einer wirklichen Erfolgskontrolle kam! In der Unternehmenskommunikation gibt es immer so tolle Ideen und Konzepte und meistens hapert es doch anschließend an der Erfolgskontrolle. Am Ende weiß niemand, ob das Konzept wirklich gut war.

Dr. Walter Conradi: Wir dachten, wenn wir schon so einen Aufwand treiben, dann wollten wir auch die Wirkung wissen. Heutzutage bewegt sich Siemens auf dem Weg der Megatrends, darüber sollen alle Bescheid wissen. Und bei großen Ereignissen wie beispielsweise dem „World Economic Forum“, was diese Woche stattfindet, versuchen wir auch, Aufmerksamkeit für unsere Themen zu finden. Die Logik ist immer die gleiche: Wir identifizieren Themen, beschreiben sie und bringen sie in die Medien intern und extern. Und am Schluss steht die Wirkungskontrolle. Umfragen zufolge haben wir unsere Themen auch diesmal gut platzieren können. Damit das möglich ist, müssen wir unsere KommunikatorInnen ständig weiterbilden.

wortstark: Mit welchen Methoden?

Dr. Walter Conradi: Zunächst mal über klassischen Seminarbetrieb: Es gibt Seminare für Presse, für Marktkommunikation und für interne Kommunikation. In diesen Seminaren sprechen wir bereits über die aktuellen „Issues“. Wir versuchen dann in Fallstudien und Gruppenarbeit, diese Themen zu bearbeiten. Das ist ganz konkret, zum Beispiel: Wie kann es gelingen, diese Themen in der Presse unterzubringen? Oder in der Kommunikation mit Kunden? Wie können diese Themen Aufmerksamkeit gewinnen und schließlich eine Handlungsmotivation auslösen, jeweils in jeder Zielgruppe?

wortstark: Also Präsenztraining. Was noch?

Dr. Walter Conradi: Wir machen das auch über Internet- und Telefonkonferenzen, mit Online-Meetings. Wieder stellen wir unsere Themen vor, zeigen Beispiele gelungener Kommunikation und versuchen dann über Fragen und Antworten die Kenntnisse zu vertiefen. Der Vorteil ist, die Leute müssen nicht reisen und wir können alle viel schneller erreichen als beim Präsenztraining.

wortstark: Wie lange führen Sie schon die Online-Variante durch? Und wie wird das angenommen?

Dr. Walter Conradi: Wir machen das seit vier Jahren und das wird sehr gut angenommen. Inzwischen nicht mehr nur für die Unternehmenskommunikation, sondern mittlerweile gestalte ich auch solche Seminare für andere Bereiche wie die Finanz- oder die Strategieabteilung, und für „Compliance“.

wortstark: Könnten Sie nochmal genauer darauf eingehen, was früher anders war? Ich erinnere mich an diese kompakten Büchlein zur gesellschaftspolitischen Information, die aus der Pressestelle kamen und in der Führungskräfteweiterbildung verteilt und eingesetzt wurden. Was ist denn nun heute anders?

Dr. Walter Conradi: Diese Hefte gibt es nicht mehr. Und damals gab es viele Einzelseminare von verschiedenen Leuten. Wir haben das aber eines Tages unter EIN inhaltliches Dach gebracht. Das war dann meine Funktion, dass wir alle Seminar nach EINEM didaktischen Prinzip ausrichten und die Inhalte und die Wirkung kontrollieren. Wir machen qualitative und quantitative Teilnehmerbefragungen und ich befrage einmal im Jahr persönlich die Kommunikationsleiter der Geschäftsbereiche, um zu erfahren, wie die Seminare im Management ankommen.

wortstark: Nochmal eine Nachfrage bitte: Was ist denn das einheitliche didaktische Prinzip bei Ihren Seminaren?

Dr. Walter Conradi: Früher gab es meistens nur Vorträge zu wichtigen Themen. Dann stellte sich heraus, die Leute wollen mehr selbst üben. Das haben wir jetzt ermöglicht, durch die Gruppenarbeiten an konkreten Fällen. Da machen die Leute Vorschläge. Und wir holen uns Referenten aus den Geschäftsbereichen, die ihre realen Lösungen vorstellen. Da wird dann das Ideal konfrontiert mit der Geschäftsrealität. Somit kommt zusammen: Vortrag, Gruppenarbeit, best practice. Die zweite didaktische Linie ist, dass wir alle Seminare nach unserem strategischen Kommunikationsprozess ausrichten.

wortstark: Was heißt das?

Dr. Walter Conradi: Die Unternehmenskommunikation muss letztlich die Strategie und unser Geschäft unterstützen. Deshalb müssen alle die Strategie kennen und die wichtigen Themen und Kommunikationsziele und Botschaften entwickeln können. Da gibt es z.B. eigene Vorgehensweisen darüber, wie ich zu Botschaften komme. Es gibt zu allen wichtigen Themen generelle Unternehmensbotschaften und sogenannte „key performance indicators“.

wortstark: Hm. Was für ein Wort… Warum eigentlich nicht auf Deutsch? (lacht)

Dr. Walter Conradi: Weil wir weltweite Verantwortung haben (lacht). Wir haben 420.000 Mitarbeiter, davon sind nur 160.000 deutsch. Die Konzernsprache ist Englisch, und deshalb sind auch die meisten von unseren Seminaren auf Englisch.

wortstark: Na gut, wir waren ja bei diesen „key indicators“. Was ist denn das?

Dr. Walter Conradi: Das sind die etablierte Messmethoden, die wir auf Kommunikation anwenden. Von ihnen muss in allen Seminaren die Rede sein, damit jeder die Wirkung seiner Kommunikationsaktivitäten messen kann.  

wortstark: Gehen die dann alle mit Clipping-Services vor? Das wäre ja ein teurer Spaß?

Dr. Walter Conradi: Das ist unterschiedlich. Es gibt mittlerweile richtige Handbücher für die Wirkungsanalyse auf unterschiedlichen Ebenen. Darüber sprechen wir im Seminar. Die Struktur ist immer gleich: Die wichtigen Themen kennen, seine Zielgruppen kennen (lernen), für die Zielgruppe die richtigen Botschaften erzeugen, Aktivitäten planen und durchführen und die Wirkung kontrollieren.

wortstark: Geben Sie diese Handbücher denn heraus oder sind die Siemens-Eigentum? Das würde mich natürlich schwer interessieren…

Dr. Walter Conradi: Nein, das geben wir nicht heraus. Das sind unsere Erfahrungen, die wir teuer mit eigener Entwicklung bezahlt haben.

wortstark: Verstehe. Und wie kommt das Konzept denn nun an bei den Leuten, können Sie dazu etwas sagen?

Dr. Walter Conradi: Ja. Die sehen dreierlei Nutzen: Die Themenkenntnis bringt Aufklärung darüber, wo will das Unternehmen hin und dann auch, wo will die Unternehmenskommunikation hin? Dazu bekommen sie ganz praktisches Handwerkszeug, um von den Themen zur praktischen Kommunikation zu kommen. Und drittens finden sie das Networking gut, dass sie also Leute kennenlernen aus unterschiedlichen Ländern und Geschäftsbereichen. Damit haben wir einen guten Standard in der Qualität des Trainings für Unternehmenskommunikation erreicht.

wortstark: Danke. Bei dem jüngsten Siemens-Trainertreffen wurden Sie spontan als „Content Owner“ für die Siemens-interne Weiterbildung vorgestellt und Sie wirkten dabei etwas überrascht. Wie sehen Sie denn selber Ihre Rolle?

Dr. Walter Conradi: Ich bin der Content Owner für alle Kommunikationsseminare bei Siemens, ja, nur dass ich da so eine große Rolle spielen soll, das kam für mich überraschend. Die inhaltliche Verantwortung gehört einfach zu meinen Aufgaben, wir haben für alle Seminare bei Learning Campus einen inhaltlich Verantwortlichen zugeordnet. Ich guck einfach darauf, und das sage ich bewusst so informell, dass die Inhalte aller Seminare zur Unternehmenskommunikation stimmig sind und zu unserer Strategie und unseren übergeordneten Themen. Wir haben ja immerhin auch viele externe Trainer –

wortstark: – Eben! Das wäre meine nächste Frage, denn wenn dieses Handbuch nur intern ist, dann dürften ja eigentlich auch nur interne Trainer ans Werk gehen?

Dr. Walter Conradi: Deswegen gibt es ja einmal im Jahr dieses Trainertreffen, damit auch jeder von den Externen wieder aktuell im Bilde ist, was tut sich bei Siemens? Und ich versuche, hier ein Entwicklungspartner zu sein, dass ich also Anregungen mitbringe in die Gespräche, was an neuen Seminaren notwendig ist.

wortstark: Beispiel?

Dr. Walter Conradi: Wir planen gerade ein neues Seminar „Social Media“, weil wir erkannt haben, dass es in Zeiten von „Blogs“ und „web 2.0“ ein großes Potenzial gibt für eine andere Ansprache von MitarbeiterInnen, KundInnen und JournalistInnen. Und wir möchten uns für den Umgang mit diesem „web 2.0“ fit machen, das ist von mir angestoßen worden und ein externer Anbieter unterrichtet es dann. Ich verstehe meine Funktion also weniger als Prüfer und Zertifizierer sondern mehr als Entwicklungspartner. Das gefällt natürlich den Leuten von Learning Campus ausnehmend gut.

wortstark: Gibt es noch mehr Neues in der Art wie „Social Media“?

Dr. Walter Conradi: Das ist für uns eine Riesenneuigkeit! Dadurch ändert sich ja nicht nur ein einzelnes Thema, sondern der ganze Umgang mit den Medien. Bisher hatten wir nur „Issues“ definiert, und die wollen wir an die Zielgruppe bringen. Aber bei Web 2.0 gibt es ja ganz andere Autoren, die ohne unseren Einfluss irgendwas verbreiten. Das gibt ein ganz neues Spiel.

wortstark: Kurz gesagt: Sie bewegen sich von der Senderperspektive weg? Das erinnert mich an mein Interview mit FROSTA, die haben ja als eine der ersten Firmen in Deutschland einen „Blog“ eingerichtet.

Dr. Walter Conradi: Dieses neue Medium geht natürlich auch inhaltlich ein in das Training Unternehmenskommunikation, denn nun bleibt es ja nicht mehr bei Presseinformationen und so weiter. Interessanterweise gibt es hier schon Anwendungen, witzigerweise bei Siemens in China: Die haben ihre Web 2.0- Kontakte zu Hochschulabsolventen – also Recruiting – toll verknüpft mit Hochschulaktivitäten. Von daher gibt uns das Rückenwind, dass wir alle unsere Leute mit dem neuen Thema vertraut machen.

wortstark: Läuft das dann als Zwangsmaßnahme ab, also wie TÜV, „alle müssen da durch“, oder bleibt den 1.500 professionellen KommunikatorInnen die Wahl, ob sie an der Weiterbildung teilnehmen oder nicht?

Dr. Walter Conradi: Das wird immer zwischen MitarbeiterIn und Vorgesetzten angesprochen, denn beide fühlen sich verantwortlich für die bestmögliche Arbeit und Förderung. Wir halten ein zentrales Weiterbildungsangebot vor.

wortstark: Wie hoch ist dann die Reichweite? Kommen am Ende doch alle 1.500 Leute?

Dr. Walter Conradi: Wir bieten heute pro Jahr 15 Seminare mit insgesamt 200 Teilnehmern, das ist also schon eine ganz ordentliche Quote. Wir sagen: Es sollte ein Mitarbeiter auf jeden Fall ein Grundlagenseminar für die Strategie bekommen und dann noch ein funktionsspezifisches als Vertiefung, also für Presse, Interne Kommunikation oder Marketing-Kommunikation. Und dazu muss er oder sie entscheiden, was er/sie sich noch dazuholt an Konferenzen und externen Trainings. Und wenn die KommunikatorInnen fit sind, schaffen sie es, unsere übergeordnete Botschaft rüberzubringen: „Siemens answers“. Siemens gibt Antworten auf einige der großen Fragen der Menschheit.

wortstark: Hm. Da kann ich jetzt nicht so ganz mit. Fragen der Menschheit haben für mich spirituelle Dimensionen, so etwas wie „Warum sterben wir irgendwann alle?“ Aus meiner Sicht gibt Siemens nicht Antworten auf die großen Fragen sondern Lösungen auf unsere großen Probleme, zum Beispiel indem neue effizientere Formen der Energieerzeugung entwickelt werden, wie es beim Trainertreffen zu sehen war. Aber bevor wir dem Unterschied zwischen Antwort und Lösung allzu viel Raum geben, möchte ich mich doch lieber herzlich für dieses äußerst interessante Gespräch bedanken, Herr Dr. Conradi.
Außerdem füllen wir die sonst übliche „offene Frage“ mit Ihrer ausführlichen Antwort auf meine Frage, was Sie nach Ihrer Siemens-Zeit beschäftigen wird. Ihre Antwort wird uns vielleicht eines Tages alle beschäftigen, wenn wir in der Welt von morgen nicht nur materiell sondern auch mental zufrieden leben möchten.

Walter ConradiSie erreichen Dr. Walter Conradi unter
Tel. 089 – 636 – 33548
E-Mail: walter.conradi@siemens.com
Website: www.siemens.com

Anhang: Bürgerschaftliches Engagement – ein persönlicher Einblick:

wortstark: Wie schaut nun dieses freiwillige Engagement in der Bürgerstiftung aus?

Dr. Walter Conradi: Zuerst habe ich mitgeholfen, eine Bürgerstiftung aufzubauen, das war 2003. Die besteht heute aus 100 Stiftern. Mit denen haben wir erstmal Kapital aufgebaut. Heute unterstützen wir damit u.a. Deutsch- und Mathematiknachhilfe-Unterricht an Schulen. Wir haben ein sogenanntes Lese-Zelt errichtet. Dort wird den Kindern vorgelesen oder sie lesen selbst, um das Sprachverständnis zu verbessern. Daneben gibt es einen „Internetratgeber für nachhaltigen Konsum“.

wortstark: Das klingt ja interessant! Und Sie sitzen selber im Zelt oder mit den Kindern am PC? Oder was machen Sie konkret?

Dr. Walter Conradi: Nein, ich war zuerst in verschiedenen Projekten tätig, dann im Stiftungsrat und seit zwei Jahren bin ich nun Finanzvorstand. Ich werbe neue Stifter an und Sponsoren und treibe das Geld ein. Und dann helfe ich mit, daraus vernünftige Projekte zu machen.

wortstark: Was ist für Sie der Reiz an dieser ehrenamtlichen Arbeit?

Dr. Walter Conradi: Das ist für mich insofern interessant, als es da ganz neue Kontakte für mich in Augsburg gibt. Ich habe mit ganz neuen Leuten zu tun, eine ganz neue Szene. Das ist auch sehr stark politisch aufgeladen. Wir haben eine Nähe zur Stadtregierung und den politischen Parteien. Es gibt hier eine Freiwilligen-Szene, die sich engagiert und das ist sehr befriedigend für mich.

wortstark: … Erinnert mich spontan an Ulrich Becks Konzept von der Bürgerarbeit?

Dr. Walter Conradi: Ja. Man kann sich leicht vorstellen, dass staatliches Handeln immer stärker unter Finanznöten steht. Dann geht es nur noch voran, wenn die Bürger selber Hand anlegen. Beispiel: Nur 20 Prozent der heutigen Hauptschulabsolventen haben im Anschluss eine Lehrstelle oder können auf eine weiterführende Schule gehen, nur 20 Prozent. Der Rest steht auf der Straße.  Und es gibt ein aktuelles Projekt mit 60 Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit erheblichem zeitlichen Aufwand als Mentoren betätigen, entweder mit Nachhilfe, Hausaufgabenbetreuung oder mit neuen Kursen, interessanten Themen, diese Jugendlichen voranzubringen. Und siehe da, innerhalb von zwei Jahren ist die Quote der jungen Leute mit Perspektiven auf 80 Prozent gestiegen.

wortstark: Toll! Wie viele Stunden pro Woche sind denn diese PrivatlehrerInnen im Einsatz?

Dr. Walter Conradi: Pro SchülerIn zwei, drei Stunden pro Woche. Manche haben einen, manche auch zwei SchülerInnen.

wortstark: Und warum machen die das? Geld gibt´s ja keines und wir haben doch alle immer schon genug zu tun…?

Dr. Walter Conradi: Es kommt wahnsinnig viel Spaß, Freude und Enthusiasmus von den Kindern und Jugendlichen zurück. Und das geht nicht nur Erwachsenen so, sondern auch Gleichaltrigen. Wir hatten vor zwei Jahren mal einen Preis ausgelobt für bürgerschaftliches Engagement von Kindern und Jugendlichen. Auch die waren begeistert. Wir wollten damit mal die andere Seite von Jugendlichen in die Öffentlichkeit bringen, nicht immer nur die sozial auffälligen, sondern auch die, von denen sonst keiner spricht. Und die haben sich sehr engagiert, das war ein großer Erfolg.

wortstark: Die Amerikaner haben ja das „volunteer“-System, so als Freiwilligen-Hilfe. Und in Deutschland gibt es das als Nachbarschaftshilfe, meistens so von älteren Leuten, wenn die Kinder aus dem Haus sind, suchen sie sich neue Aufgaben. Aber Kinder und Jugendliche haben doch meistens ihre eigenen Interessen… ?

Dr. Walter Conradi: Genau das wollten wir ja zeigen, dass dem nicht so ist. Da gehen Kinder, vor allem Mädchen, während der Woche mehrmals in Altenheime und lesen dort etwas vor oder gehen mit den Senioren spazieren. Die Jungen lernen etwas und die Alten freuen sich, dass sie gefragt werden. Da ist die Begeisterung gegenseitig groß. Das läuft über Wochen, auch in den Ferien. Wir hatten ein Mädchen, die hat ihre Sommerferien in der Obdachlosenbetreuung verbracht, anstatt in den Urlaub zu fahren. Da gibt es viele Beispiele.

wortstark: Eigentlich komisch, wenn doch so viel Helfer-Wille da ist, dass es normalerweise kaum passiert…

Dr. Walter Conradi: Es muss jemand da sein, der das organisiert. Der die Nachfrage bündelt und die Engagierten zusammenbringt. Und wir haben auch noch Geld, um die Sachkosten zu unterstützen. Viele Leute wollen ja helfen, aber wissen nicht, wie sie es anfangen sollen. Organisation von Engagement – das ist es.

wortstark: Doch wie kommt jemand, der bei Siemens an den zentralen Themen und deren konzernweiten Verbreitung arbeitet, zum bürgerschaftlichen Engagement?

Dr. Walter Conradi: Ich habe mich bei Siemens schon früh für „Corporate Citizenship“ interessiert als einen Teil des „Issue Management“. Bei „Corporate Citzenship“ geht es ja darum, das Unternehmen als verantwortungsvollen Mitbürger in der Welt aufzustellen. Es gilt, die MitarbeiterInnen zu freiwilligem Engagement zu motivieren, direkt im eigenen Umfeld. Das hätte ich gern ernst(er) genommen, aber jahrelang ging das nicht: Ich war ja durch meine Siemens-Tätigkeit viel international unterwegs, kannte fast die ganze Welt, aber nur sehr flüchtig und an meinem Wohnort kannte ich kaum Leute, war kaum eingebunden. Jetzt kommt der Kontrapunkt: Mit Aussicht auf den Ruhestand findet die Gegenbewegung statt, die Rückkehr an den Ort der Kindheit.

wortstark: Also „zurück zu den Wurzeln“? Andererseits: Das verspüren doch viele Leute irgendwann, auch ohne Einflüsse von „Corporate Citzenship“?

Dr. Walter Conradi: Ja, aber es gibt noch einen anderen Auslöser: Ich habe mich immer mit gesellschaftlicher Verantwortung auseinandergesetzt. Das Thema meiner Dissertation war „Hilfreiches Handeln in wirtschaftlichen Organisationen: Altruismus in der Ökonomie“. Wie können solche Motive in der Wirtschaft überleben? Man denkt im Moment, das ist ein Widerspruch, denn Wirtschaft, das heißt doch Egoismus nach Adam Smith? Aber es gibt trotzdem das Erfordernis, miteinander zu arbeiten und füreinander da zu sein, also prosozial zu sein. Und siehe da, es gibt genügend Hinweise aus Psychologie, Anthropologie und Biologie, dass der Mensch von Natur aus eben nicht egoistisch ist sondern sehr wohl sozial, wenn er nur Gelegenheit dazu hat. Das war also in meiner Ausbildung schon angelegt.

wortstark: … Was ja wiederum Ihrer Argumentation recht gibt, möglichst früh bei Kindern und Jugendlichen ein Bewusstsein für diese andere, sozialere Ordnung der Welt zu schaffen. Vielen Dank für Ihre persönliche Beschreibung Ihres Weges, Herr Dr. Conradi, und den Einblick in bürgerschaftliches Engagement.

Nähere Informationen: www.buergerstiftung-augsburg.de

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