1. Atem,- Sprech- und Stimmbildnerin: Schlüsselerlebnis – Reiz der Berufswahl?

wortstark: Frau Seebauer – Sie führen seit 16 Jahren eine Praxis für Atem,- Sprech- und Stimmtherapie. Wie kamen Sie zu diesem Beruf – gab es einst ein Schlüsselerlebnis? Oder was reizte und reizt Sie bis heute daran?

Ruth Seebauer: In meinem Leben habe ich schon früh mit Musik zu tun gehabt. Meine Mutter spielte sehr gut Klavier. Mein Vater war Maler, aber auch sehr musikalisch, er hat übrigens die klassischen Stücke mitgepfiffen. Als Kind habe ich schon viel gesungen. Und dann hatte ich während meines Soziologie-Studiums eine Arbeitsgruppe, wo zwei Musikerfreunde dabei waren und wir haben da immer sehr viel gesungen … neben den unaufgeschlagenen Statistik-Ordnern (lacht) …

wortstark: Also nochmal: wirklich Soziologie-Studium und nicht Musik? (lacht)

Ruth Seebauer: Ja. Ich habe irgendwann gemerkt, dass Soziologie nur ein Studium aus Interesse für mich selbst ist und kein Beruf. Aber ich habe das Studium abgeschlossen. Währenddessen bin ich autodidaktisch in die Musik hineingewachsen, war zuerst als Gitarrenlehrerin an der Volkshochschule und später arbeitete ich an einem mobilen Masken- und Musik-Theater. Das Projekt hieß „Kultur auf Rädern“, wir veranstalteten Workshops mit sozialen Randgruppen wie Psychiatrie-Patienten, alten Menschen oder Asylbewerbern. Dabei wurde mir die Wichtigkeit der Stimme sehr bewusst, und ich wollte mehr über die Hintergründe wissen: Wieso wird die Stimme lauter, wenn ich mich schüttle? Wieso wirken solche Übungen? So habe ich in der Nähe von Hannover, in Bad Nenndorf, drei Jahre die Ausbildung gemacht für Atem,- Sprech- und Stimmbildung. Ich habe nach der Methode Schlaffhorst-Andersen gelernt, die allgemein anerkannt ist und eine Kassenzulassung hat. Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen waren zwei Frauen, die vor hundert Jahren lebten und ihre Methode rein intuitiv entwickelten – die Wissenschaft war damals noch nicht so weit. Später besuchte ich noch das Lichtenberger Institut und machte eine weitere Ausbildung als Pädagogin für angewandte Stimmphysiologie.

wortstark: Ihr Schlüsselerlebnis war also dann die Zeit im mobilen Theater … Wo war da genau der Reiz?

2. Was ist das Besondere an der Stimme als Kommunikationsmittel?

Ruth Seebauer: Die Stimme ist eines der wichtigsten Kommunikationsmittel. Mit ihr vermitteln wir nicht nur sachliche Informationen sondern auch Emotionen und Stimmungen. Es ist ein sehr intimes Organ, was auch wenn wir es nicht wollen, unser Innenleben reflektiert. Und was mich bis heute reizt, sind die breit gefächerten Ausübungsmöglichkeiten meines Berufs. Ich war an einer Schauspielschule als Sprecherzieherin und Stimmbildnerin, werde öfters als Phonetik-Lehrerin bei Deutschkursen für Ausländerinnen geholt, habe eine eigene Singgruppe, veranstalte Jodelworkshops, werde zu Firmen eingeladen zu Trainings und dann bin ich auch noch Sängerin und Musikerin und gehe auf die Bühne.

wortstark: Okay, vielen Dank. In diesem Gespräch möchte ich vor allem auf die Sprechstörungen eingehen. Mit welchen Problemen kommen in diesem Bereich die meisten Leute zu Ihnen? Was sind typische Fälle?

3. Wer will besser sprechen lernen – und wer bezahlt´s?

Ruth Seebauer: Da kommen zum einen Leute aus Sprechberufen, also Lehrer, Trainer, Manager – alle, die Gruppen anleiten oder viel sprechen. Deren Stimmen sind oft zu leise, sie kommen nicht rüber, sprechen zu nuschelig, poltern oder stottern…

wortstark: Die haben also ein Problem im Beruf, aber andererseits ist die Stimme so etwas Intimes, dass vielleicht nicht jeder seine Vorgesetzten einweihen will. Wer kommt für diese Art „Sprechstunden“ auf: Müssen die Leute das selber zahlen?

Ruth Seebauer: Nein, der Großteil kommt mit medizinischer Indikation, also auf Rezept über ärztliche Verordnung. Das wird über die Krankenkasse abgerechnet als Sprech- und Stimmtherapie.

4. Beispiel Lispeln: angeboren oder angelernt?

wortstark: Jetzt nehmen wir doch mal das Lispeln: Woher kommt das? Ist das eine Krankheit, sozusagen angeboren oder ist es eine schlechte Angewohnheit?

Ruth Seebauer: Lispeln ist ein gesellschaftliches Phänomen, was in unserem Kulturkreis als störend empfunden wird. Es könnte auch einfach als unanstößig erlebt werden und man müsste es gar nicht behandeln. Aber es ist ein Artikulationsproblem und man kann es therapieren.

wortstark: Was passiert da genau im Mund? Können Sie das beschreiben?

Ruth Seebauer: Ja. Die Zunge ist zu wenig tonisiert, das heißt, sie hat zu wenig Spannung und stößt vorne an die Zähne an. Es kann auch sein, dass die Luft seitlich entweicht, dann artikuliert die Zunge nicht mittig.

wortstark: Und dann?

Ruth Seebauer: Dann ist bei den Zischlauten wie „s“, „z“ und „sch“ das Zischen überbetont und die Deutlichkeit leidet. Sie fragen ja nach der Ursache: Lispeln ist eher erlernt und nimmt zurzeit zu. Das hat auch etwas mit der Aufmerksamkeit darauf zu tun und mit unserem Perfektionismus. Unter anderem durch unsere immer bessere Aufnahmetechnik fällt Lispeln überhaupt auf. Bei vielen Aufnahmen sind ja jegliche „Fehler“ ausgefiltert, deswegen sind wir gewöhnt, fehlerlose und perfekte Aufnahmen zu hören und reagieren empfindlich auf das natürliche gesprochene Wort, also auch jetzt, wenn ich zwischendrin ein „äh“ von mir gebe und nicht so geschliffen spreche. Eine andere Ursache liegt darin, dass die Kinder heute ein bequemeres Leben führen und dadurch weniger Körperspannung als früher haben. Das Sprechen und Artikulieren hat auch mit der Gesamtkörperspannung zu tun.

wortstark: Lasche Kinder also?… (lacht) Aber was können Sie dagegen tun? Die Gesellschaft können Sie nicht ändern und den Kindern einfach mehr Sport verordnen?

Ruth Seebauer: Wie wär’s mit Mundgymnastik und Zungentraining? Das ist reines Training: Kräftigung der Zunge und Selbstwahrnehmung steigern, also dass derjenige merkt, an welcher Stelle die Zunge an die Zähne anstößt. Lispeln ist wirklich gut wegzutherapieren.

5. Beispiel Stottern: was es ist und wie es behandelt werden kann

wortstark: Aha, danke. Gehen wir doch mal auf andere Sprechstörungen ein: Was tun Sie denn zum Beispiel, wenn jemand stottert oder häufig nicht die richtigen Worte findet?

Ruth Seebauer: Stottern ist keine Artikulationsstörung sondern neurologisch bedingt. Das ist entweder angeboren oder es ist in der Vergangenheit ein Schock oder Schreck vorgefallen, was im Gehirn gespeichert wurde. Stottern kann mit körperlichen Symptomen einhergehen, mit Zuckungen und Veränderungen der Mimik. Und die Redefluss-Störung ist eine verminderte Form von Stottern, diese Leute haben zum Beispiel beim „d“ eine Stockung und gehen dann  damit so um, dass sie versuchen, Wörter mit „d“ zu vermeiden und fahren Kurven im Kopf, um diese Wörter zu umgehen.

wortstark: Und mit welchen Methoden können Sie helfen?

Ruth Seebauer: Es geht erst mal darum, dass derjenige für das Phänomen eine Akzeptanz entwickelt.

wortstark: Also Sie ermutigen dazu: „Du darfst lange brauchen, um den Satz rauszubringen?“

Ruth Seebauer: Ich baue eher eine Atmosphäre von Ruhe auf und der andere spürt, dass er Zeit hat. Zuhören und aussprechen lassen ist wichtig. Eine Möglichkeit ist auch, dass derjenige seine Sprechweise bewusst ausführt, quasi  selbst imitiert.

wortstark: Und wer es doch neurologisch hat? Bekommt der dann Medikamente?

Ruth Seebauer: Nein. Aber man müsste den Schock bearbeiten. psychotherapeutisch und atemtherapeutisch.

wortstark: Hm. Und bei der leichteren Form? Mit diesem Redefluss?

Ruth Seebauer: Hier helfen Strömungslaute: Das stimmhafte „s“ und das stimmhafte „f“ und „w“ … (macht es am Telefon vor). Auch Klingerlaute wie „m“ und „n“ sind gut. Es wird viel gesummt. Das bringt die Atmung in Gang.

wortstark: Und dann bekommen die Leute das als Hausaufgabe und sollen daheim üben?

Ruth Seebauer: Ja genau.

6. Kinofilm „The Kings Speech“: Gehirn erfolgreich neu verschaltet

wortstark: Was mir gerade einfällt: Da kam doch vor einiger Zeit dieser Film „The Kings Speech“ im Kino, über den stotternden König von England. Der wurde ja mit rhythmischen Übungen geheilt. Was halten Sie davon?

Ruth Seebauer: Das war richtig. Den Film fand ich gut. Man kann über Musik und über Singen die Sprache durch die andere Gehirnhälfte erreichen und sie anders verschalten. Das können sich Stotterer zunutze machen. Deswegen mache ich auch viel mit Sprechgesang. Die Singeinstellung des Kehlkopfes, so sagt man, erleichtert auch das Sprechen. Deswegen haben viele Stotterer beim Singen das Phänomen überhaupt nicht.

7. Beispiel Dialektsprechen: was ist machbar, was ist wünschbar?

wortstark: Das ist ja auch interessant: Singen hilft gegen Stottern… Jetzt kommen wir noch zu einem Thema, was ich nicht als Sprechstörung bezeichnen würde, aber manche Betroffene erleben es als störend und suchen Rat: DialektsprecherInnen. Wenn jetzt jemand zu Ihnen kommt, weil er zum Beispiel tiefstes Bayerisch spricht und möchte gern Hochdeutsch können: Helfen Sie dem? Inwieweit ist das machbar und inwieweit ist das überhaupt wünschbar?

Ruth Seebauer: Also eine Sprechstörung ist es wirklich auf keinen Fall. Dialektsprecher erleben es auch nur als störend, wenn sie einen Beruf haben, wo sie Hochdeutsch sprechen sollten: Als Rundfunksprecher, Schauspieler, Sänger. Ansonsten ist es ein wichtiger lokaler Ausdruck, gerade im Zuge der fortschreitenden Globalisierung und der Vereinheitlichung sind Dialekte ein kultureller Fundus. Über den Dialekt lassen sich Gefühle ausdrücken, über spezielle Wörter oder Färbungen, die derjenige auf Hochdeutsch nicht wirklich ausdrücken könnte. Und auch das heimatliche Gefühl wird ja dabei angezapft.

wortstark: Heimat geht ja auch nochmal in eine ganz andere Dimension von Sprache, da geht´s ja um Identität…

Ruth Seebauer: Ja, und Ausdruck. Unsere Gefühle brauchen Ausdruck. Das kann das Sprechen sein, das kann das Singen sein, das kann das Malen sein. Wer das Sprechen als Ausdruckskanal besitzt, für den ist es wichtig, sich in seiner Sprache gut zuhause zu fühlen.

wortstark: Wenn zu mir jemand mit dem Anliegen kommt, ermutige ich auch immer: Erhalten Sie sich das doch. Das ist ein Teil von Ihnen. Aber es gibt schon Fälle, wo es zum Beispiel der Karriere im Wege steht und inwieweit ist dann die Umwandlung zum Hochdeutschen machbar? Und wie läuft das ab?

Ruth Seebauer: Es ist mehr oder weniger gut machbar. Zuerst müsste er hören, wahrnehmen lernen, was denn nun anders ist bei Dialekt und Hochdeutsch. Ich habe gar nichts dagegen, mit den Leuten daran zu feilen. Das ist genauso wie beim Stimmbilden. Man lernt etwas dazu und ich finde nicht, dass man das andere verlernt. Ich sehe das als Zugewinn!

8. Nicht A und O, sondern A und R: Sonderlektion Bayerisch

wortstark: Könnten Sie ein Beispiel geben, ein bayerisches Wort, was man erst mal gründlich anhören muss, bis man den Unterschied zum Hochdeutschen merkt?

Ruth Seebauer: Bei mir im Chiemgau gibt es einen Ort, der heißt „Greimharting“. Und die Einheimischen sagen aber „Groamaschting“ (lacht)

wortstark: Oh – das ist aber schon wirklich sehr anders! (lacht)

Ruth Seebauer: Wenn Sie es leichter haben wollen: Das „A“ ist im Bayerischen anders. Im Hochdeutschen hat es einen Stimmvordersitz und ist heller. Das bayerische „A“ ist mehr im Rachen, also dorsal, weiter hinten und dunkler. Ein anderer Laut ist das „R“. Es wird im Bayerischen durch die rollende Zunge gebildet und im Hochdeutschen weiter hinten.

wortstark: Da fällt mir gerade etwas ein: Ist eigentlich auch schon mal jemand zu Ihnen gekommen, der Hochdeutsch spricht und gerne Bayerisch lernen wollte?

Ruth Seebauer: Bayerisch vielleicht nicht, aber für das „Zungen-R“ kommen immer wieder Leute. Viele SängerInnen möchten italienische Arien singen und brauchen dafür das gerollte „R“.

wortstark: Mit diesem gerollten „R“ rollt auch das Interview in seine letzte Phase: Wenn Ihnen aus Ihrem Kontext noch etwas einfällt, was hier nicht angesprochen wurde, aber Ihnen wichtig ist, dann finden Sie hier Raum dafür…

9. Appell an Eltern: Persönlich mit Kindern reden

Ruth Seebauer: Ich würde gerne Eltern, Lehrern und Erziehern etwas mitgeben: Dass mit den kleineren Kindern viel vorgelesen und gesprochen werden soll. Die Sprechanlässe in den Familien werden immer weniger und deswegen muss man das einfach fördern. Es hat sich eine nonverbale Verständigung herausgebildet, aus der heraus die Eltern schnell zu erkennen versuchen, was das Kind sagen will. Dadurch lernt es aber nicht, sich wirklich auszudrücken. Und sie sollten es sich auch selbst nicht zu leicht machen: Nicht einfach Kind ins Bett legen und auf den Knopf mit der CD oder DVD drücken, sondern erzählen und erzählen lassen und sich wirklich Zeit nehmen für die Geschichte und das Sprechen. Und in den Familien und Schulen sollte mehr gesungen werden.

10. Appell an LehrerInnen: Gemeinsames Singen in den Schulen

wortstark: Wir sind ja schon am Ende des Gesprächs, aber an der Stelle möchte ich mich doch nochmal einklinken: Da sind doch die Kinder meistens wenig begeistert, wenn in der Schule gesungen werden soll, oder? Also bei mir in der Klasse war das immer sehr unbeliebt, speziell die Jungs wollten da nie mitmachen…

Ruth Seebauer: Es kommt immer darauf an, welche Kultur der Lehrer daraus macht. In der Waldorf-Schule ist Singen völlig normal, die singen jeden Tag.

wortstark: Und da machen die wirklich begeistert mit? Ein modernes Kind im Jahr 2012?

Ruth Seebauer: Ja, es kommt wirklich auf den Lehrer an und ob er/sie es vermitteln können und es als wichtig erachten. Es gibt sogar einen Verein, der das Singen mit Kindern ins Grundgesetz schreiben lassen will, weil es ein Grundbedürfnis von Kindern ist. Der Verein heißt Il Canto del Mondo. Ich weiß schon, dass so etwas schwer durchzusetzen ist. Im Moment passiert leider immer das Gegenteil: Wenn Unterricht gekürzt wird, dann Kunst oder Musik.

wortstark: Tja, und als Erwachsene haben sie dann Probleme mit ihrer Stimme…

Ruth Seebauer: Nicht nur das. Singen bringt ja noch mehr: Es fördert die Intelligenz, weil das Gehirn anders angesprochen wird, und, ganz wichtig, es bringt  Entspannung. Dazu gibt es viele Untersuchungen, dass nach zwei Stunden Chorsingen die Ausschüttung von Glückshormonen nachweisbar ist. Wir brauchen viel mehr die Entspannung als diesen Stress – wir leben doch alle in einer Stressgesellschaft.

wortstark: Okay, aber dagegen ist ja wie Sie berichten, ein Kraut gewachsen… Vielen Dank, Frau Seebauer, für dieses anregende und informative Gespräch.

Ruth Seebauer

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